Jedes Mal, wenn es öffentlichkeitswirksame Übergriffe auf Frauen gab – die Dunkelziffer ist ja weitaus höher – entsteht ein Run auf Selbstverteidigungs-Kurse. Doch welcher ist der Richtige? Fast nirgendwo gibt es so viele „Wir-sind-die-einzig-wahren“-Behauptungen, wie in Kampfsport und Selbstverteidigung. Nur, woran erkannt Frau, ob das Studio/ der Stil/ das Training das wirklich Richtige für sie ist? Darauf gibt es sicher keine allgemeingültige Antwort, aber ein paar Orientierungspunkte für Deine Wahl. rein aus meiner Sicht als Trainierende, Frau und Anwenderin:

1. Der Wohlfühlfaktor

Das A und O!!! Du musst Dich sowohl in den Räumlichkeiten, als auch mit dem Trainer und den anderen Trainierenden wohlfühlen. Sonst gehst Du nach ein paar Mal nicht mehr hin. Also teste so viele Studios, wie Du magst und suche Dir eines, bei dem Du Dich wohl fühlst und gerne aufhältst. Das ist sehr subjektiv – höre auf Dein Bauchgefühl. Was sich am Anfang schon nicht gut anfühlt, wird auch nicht besser.

2. Der Stil

Das ist so ein Thema. Es gibt Abermillionen Videos im Netz, bei denen Stile sich gegenseitig diffamieren und jeder behauptet von sich, der einzig Wahre zu sein. Nicht zu vergessen: Kampfsport ist nicht gleich Selbstverteidigung! Meine Ansicht zum Thema:

• Der Stil muss so realitätsnah wie möglich sein!

Es nutzt Dir im realen Leben nichts, wenn Du irgendwelche Fancy Moves kennst, die Dich null auf das reale Leben vorbereiten! Damit kannst Du vielleicht vor Deinen Freunden angeben, aber wenn Du von jemandem attackiert wirst, der es wirklich auf Dich, Dein Leben oder Deine Vagina abgesehen hat, hast Du damit geloost! Egal was der Trainer Dir erzählt, dass Du das ja nur ein bisschen üben musst. Wenn es drauf ankommt hast Du weder Hirnkapazität (Adrenalin!) noch Zeit für so einen Mist.

• No rules

Es gibt Stile, bei denen Du als erstes „die Regeln“ lernst und das „was wir alles nicht dürfen“. Das ist vielleicht ganz nett für den Wettkampf. Aber für die Straße – vergiss es! Wenn es um Dein Leben geht, kratze, beiße, trete und reiße soviel Du willst. Alles was es braucht, um Deinen Körper und Dein Leben zu schützen. Ein Regel-Kanon im Kopf wird Dich im Ernstfall daran hindern, alles zu geben. Denn wir können nur das abrufen, was im Muskelgedächtnis abrufbar ist. Und wenn jemand meint, Dich angreifen zu müssen, muss er auch mit massiver Gegenwehr rechnen. Auch wenn geschickte Täter-Anwälte da manchmal anderer Ansicht sind.

• Realitätsnahes Training

Das Beste und auch Härteste was ich je gemacht habe, war ein Multi-Attacker Training. Das kann ich Dir wirklich empfehlen! Realitätsnähe heißt Real Life Szenarien zu trainieren. Bei denen es mal richtig zur Sache geht! Nur so wirst Du einigermaßen auf die Auswirkungen von Adrenalin im Körper und Täterverhalten vorbereitet. Natürlich im Rahmen des Verträglichen und mit entsprechender Schutzausrüstung, bei einem professionellen Anbieter, versteht sich. Multi-Attacker Szenarien, das Gefühl in einer Menschenmenge eingeklemmt zu sein und Attacken mit mehreren Tools (weiche Badenudeln kommen hier gerne zum Einsatz, also keine Angst) plus Bodenkampfelemente sollten darin vorkommen. Und auch „wattierte“ Angreifer, bei denen Du Deine Grenzen austesten kannst und erweiterst. Erst bei einem Angriff im nächtlichen Parkhaus festzustellen, dass das mit dem Zwischendiebeinetreten nicht funktioniert, ist denkbar ungünstig.

• Bodenkampfelemente

Es gibt Stile, die davon ausgehen, dass „man eben einfach nicht auf den Boden kommt“. Das ist ja in der Theorie ganz nice, aber so sieht das reale Leben nicht aus. Ein Vergewaltiger wird in erster Linie dafür sorgen, dass er Dich auf den Boden bekommt. Danach sucht er sein Opfer aus. Aus dem Hinterhalt mit möglichst hoher Erfolgsgarantie. Da kann Dir Dein Trainer erzählen, was er will. Wenn Du unten liegst, musst Du damit umgehen können! Und zu versuchen denjenigen „mal eben so mit Körperkraft runterzuschubsen“ ist hier nicht die Antwort, nach der Du suchst! Mein Tipp: immer erst zu Dir ran ziehen. Ja, das ist kontraintuitiv. Nur so hast Du den Hauch einer Chance.

• Probiere aus!

Probiere verschiedene Stile aus. Um Dich und Deinen Körper besser kennenzulernen, um körperlich fit zu werden und flexibel im Kopf zu sein. Für mich war es ein Riesen Aha-Effekt, als ich mal zum Spaß in einem anderen Verein trainierte. Die machten dort nur ein paar Kleinigkeiten anders als dort, wo ich damals trainierte und plötzlich funktionierte manches nicht mehr. Das hat mir plastisch vor Augen geführt, dass es nicht DEN Stil gibt. Sondern nur Situationen, auf die Du adäquat reagieren können musst. Mit dem, was Du kannst, auf die jeweilige Situation angepasst. Ich persönlich bin ein großer Fan von Krav Maga. Aber wie gesagt, auch da hängt es vom Verein ab und der Art, wie es gelehrt wird. Es gibt aber auch noch eine ganze Menge anderer Stile – z.B. MMA Mixed Martial Arts. Wie gesagt, probiere aus. Am Ende zählt sowieso eher Deine körperliche Fitness und Awareness, als das was über der Tür des Vereins steht!

3. Der Trainer

Der Trainer sollte möglichst „Straßen Erfahrung“ haben. Jemand, der nur mal einen kleinen Kurs gemacht hat und sich jetzt Trainer nennt, mag ja ganz nett sein, wird Dir aber möglicherweise Bullshit erzählen. Jemand, der weiß, wie Messerangriffe in der Realität ablaufen, oder dass es doch nicht so leicht ist, „mal eben eine Pistole zu entwaffnen“, verhindert, dass Du Dich in falscher Sicherheit wiegst. So ein richtiger „Straßenkater“ – und ich meine das mitnichten abwertend!! Denn wir alle sind so nette, domestizierte Haus-Siamkatzen, um bei dem Bild zu bleiben, die sich gar nicht vorstellen können, wie dreckig jemand agieren kann. Sich in den Täter hineinversetzen und mit den Abgründen der Menschheit rechnen zu können hilft, alle Kräfte zu mobilisieren. Schau Dir gerne mal Youtube-Videos dazu an. Ich musste zu meinem Erschrecken feststellen, dass Menschen sogar aus Tae Bo-itness-Kursen (so eine Art Aerobic) kommen und sich einbilden, sich damit verteidigen zu können. Ommm!

4. Umgang mit neuen Mitgliedern

Bei aller Realitätsnähe und Ernsthaftigkeit musst Du als neues Mitglied gut aufgenommen werden. Das heißt zum einen, mit aller Freundlichkeit und zum anderen, Deinem Fitnesslevel entsprechend. Gerade wenn Du als Frau mit Männern trainierst, was ich Dir empfehle, und sie ohne Rücksicht auf Dich einknüppeln, weil Du als Anfänger „die Deckung nicht oben hast“, wirst Du Dich zum einen verletzen und auch sehr bald die Lust am Training verlieren. Wenn Du anfängst zu laufen, läufst Du ja auch nicht gleich einen Marathon. Ein guter Trainer achtet darauf, dass Du den Impact langsam steigerst. Jeder hat mal klein angefangen! Wenn dieser Spirit dort nicht herrscht, suche Dir einen anderen Club.

5. Kein falscher Ehrgeiz!

Habe diesbezüglich auch selbst keinen falschen Ehrgeiz. Es ist noch kein Bruce Lee vom Himmel gefallen! Wenn Du ernsthaft trainierst, wird sich Dein Trainingserfolg und Fitnessanstieg ziemlich bald einstellen. Ohne, dass Du Muskeln, Sehnen und Gelenke überforderst oder schädigst. Wirst Du Muskelkater haben, sonstige Schmerzen und eventuell auch mal ein Hämatom? Ich hoffe doch!

6. Fitness

Das Training sollte einen hohen Fitnessanteil haben. Ja, Du wirst an Deine Grenzen kommen und am Anfang vielleicht auch mal eine Pause einlegen müssen, während alle anderen nochmal 50 Situps oder Push ups machen. Macht nix. Geh wieder hin und werde fitter! Denn wie oft höre ich von Frauen: Ich trete ihm zwischen die Beine und renne weg!“. Wenn ich dann frage, wann sie das letzte Mal so richtig gerannt sind, kommt bei einigen „Irgendwann im Schulsport“. Well…., damit kannst Du keinen Blumentopf gewinnen! Übrigens auch nicht mit dem „zwischen die Beine treten“. Mehr dazu lernst Du in einem Real-Life-Training. Bitte immer darauf achten, dass Dein Trainingspartner einen Tiefschutz trägt! Just saying…

7. Core Strength

Auch wichtig ist die Core-Strength-Training (ist ein netteres Wort als Rumpfstabilität 😉). Das heißt, dass Du nicht sofort das Gleichgewicht verlierst, wenn Dich jemand nur leicht schubst. Diese kommt nur durch kontinuierliches Training. Rumpfstabilität ist das A und O im Kampf. Sonst wirft Dich ein Angreifer schneller um, als Du „Vergewaltiger“ sagen kannst. Kann man auch außerhalb des Studios trainieren. Am Besten jeden Tag ein bisschen. Planke rocks!

8. Es ist kein Beauty Contest!

Wenn es in einem Training richtig zur Sache geht, schmeiße den Gedanken an Schönheit über Bord! Warum ich das schreibe? Weil man sich völlig verschwitzt, rot, fertig, am Ende und kurz vorm Übergeben (ok, das kommt nicht so oft vor) nicht schön fühlt. Das Makeup ist heruntergeschwitzt, die Haare kleben am Kopf und das Deo wirkt schon lange nicht mehr. Wenn beim Bodenkampfseminar das T-Shirt halb in Fetzen hängt, ist auch Schluss mit Beauty-Contest. Und ich weiss, dass das manche Frau demotivieren kann. Unbewusst. Unsere Psyche macht ja manchmal komische Dinge. So what! Und hier noch mein Lieblingsthema: lange, am besten aufgeklebte Fingernägel… Ich habe Mädels erlebt, die sich nicht auf das Training konzentrieren konnten, weil sie die ganze Zeit Angst hatten, einen falschen Nagel abzubrechen. Die aus dem gleichen Grund keine richtige Faust machen konnten und somit ihren eigenen Trainingserfolg untergruben. Kannste machen, ist aber nicht wirklich sinnvoll. Nur mal so als Gedanken-Anstoß.

Blaue Flecken sind egal

Im Ernstfall geht es nicht darum, ob Du die beste Figur abgibst, sondern ob Du in der Lage bist, Dich schnell aus einer Gefahrensituation herauszubewegen. Habe keine Angst vor blauen Flecken. Die kommen nun mal und gehen auch wieder weg. So what!

9. Trainiere mit Ernsthaftigkeit

Natürlich soll das Training Spaß machen. Ein Ort, an dem nicht gelacht wird, ist der falsche Ort. Dennoch solltest Du mit Ernsthaftigkeit und konzentriert trainieren. Hole das Beste aus Dir und Deinem Körper heraus! Dazu können sich auch Einzelstunden lohnen. Sie sind ein super Investment, um Deine individuellen Fähigkeiten zu schulen. Also nicht 1000 verschiedene Moves trainieren, sondern eine Sache richtig intensiv!

10. Vermeide brenzlige Situationen durch Awareness!

Und wie immer gilt: Das Beste ist, soviel Awareness, also Umgebungsbewusstsein zu haben, dass Du gar nicht erst in eine Selbstverteidigungs-Situation kommst! Denn wenn das passiert, hast Du schon oft einige Dinge übersehen, Muster einer Gefahr gar nicht erst erkannt oder gedacht „Ich bin so cool, mir passiert doch nichts“. Ich kann das „ich hätte doch nieeeee damit gerechnet, dass…“ echt nicht mehr hören!.

Sicherheit fängt damit an, zum Beispiel nicht im Dunkeln alleine und mit Kopfhörern joggen zu gehen. Mehr dazu in meinen Seminaren zu Sicherheitsawareness für Frauen. Diese gibt es auf Anfrage.

In diesem Sinne,
Stay safe & courageous!

Deine Ute